„Kein Ticket nach Hause zurück!“ – Lokalpolitikerin berichtet von ihren Erfahrungen mit Geflüchteten

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Am Dienstag, 27.11.2018, besuchte Juliane Große-Neugebauer, stellvertretende Kreisvorsitzende des CDU-Kreisverbandes Meppen und Ortsvorsteherin von Rühle, den Deutsch-LK DE 310, um über die Flüchtlingsthematik zu informieren und von ihrer Arbeit mit geflüchteten Sudanesen zu berich­ten. Die Gesprächsrunde wurde bereichert durch Frau Bramlage, die sich ebenfalls mit dieser Thematik beschäftigt. Beiden sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich für ihren Besuch gedankt!

„Wer von Euch geht nach dem Abitur studieren? Wer etwas weiter weg?“ – Mit diesem lebensna­hen Einstieg begann die sehr informierende und teils auch sehr berührende Gesprächsrunde mit Juliane Große-Neugebauer. Im Rahmen der Vorgaben für das Abitur 2019 wurde im Deutsch-LK DE 310 der Roman „Gehen, ging, gegangen“ (2015) von Jenny Erpenbeck zur „Flüchtlingskrise“ behan­delt. Schnell kam der Wunsch von den Schülern auf, noch mehr über diese komplexe Thematik zu erfahren, da die Einzelschicksale der Flüchtlinge, die der Roman am Rande streift, zum einen bewe­gen und berühren, zum anderen aber auch unvorstellbar weit weg von der eigenen Lebenswelt sind. Um einen besseren Zugang zur Flüchtlingsthematik allgemein, aber auch zum Umgang mit Geflüchteten direkt vor Ort zu gewinnen, wurde die Lokalpolitikerin in den Unterricht eingeladen. Sehr anschaulich, enorm engagiert und besonders konkret erzählte sie von ihren Erfahrungen mit den politisch verfolgten und nach Deutschland geflohenen jungen Männern aus dem Sudan, die in ihrer Heimat nicht überleben würden – nun aber in Meppen-Rühle eine neue Heimat gefunden hätten.

 

Zu Beginn knüpfte Große-Neugebauer folglich an der Lebenswelt der Schüler an: Wie ist es, wenn man seine Familie verlässt bzw. verlassen muss, um zu überleben – wie ist es, wenn man nicht weiß, ob und wann man sich wiedersieht? Die anhaltende Sehnsucht nach der Nähe der zurückge­lassenen Ehefrau, der Eltern, der Kinder oder der Geschwister, die allgegenwärtig ist, und das Han­dy, das als einziges Medium einen Kontakt ermöglicht. „Warum haben denn so viele Flüchtlinge ein Handy? Eben um mit ihrer Familie zu sprechen. Und was haben sie sonst noch? — Eben.“ Große-Neugebauer rief zu einem mutigen Umgang mit dieser Thematik auf und packte dazu ein Geschenk aus, eine Kriegerfigur aus dem Sudan: „Seid mutig; macht, was Spaß macht, und nicht nur Sachen, die andere von euch erwarten“ und: „Seid keine Lemminge, die der Masse blind hinterherlaufen, werdet nicht zu Mitläufern, sondern setzt euch kritisch mit den Themen auseinander, hinterfragt Geschichten und bildet euch eure eigene Meinung.“

 

Sie erzählt weiter von den Leidensgeschichten der Geflüchteten – von Willkür und Schikane durch die Machthabenden im Sudan, von absoluter Hilflosigkeit bis hin zum Ausgeliefertsein, von Folter und unmenschlichen Zuständen in den sudanesischen Gefängnissen, vom fehlenden Rechtssystem und fehlender medizinischer Versorgung. Die Schüler lauschen gespannt dem Vortrag, sind ent­setzt und betroffen, fassungslos, können diese Erfahrungen aufnehmen, aber nie wirklich verste­hen, geschweige denn nachempfinden. Aber sie sind dankbar für diesen „Blick über den Teller­rand“ der eigenen, kleinen heilen Welt, in der es ihnen so gut geht und in der sie vieles für selbst­verständlich hinnehmen.

Und ihr Blick auf die Geflüchteten hat sich verändert: „Den Menschen zu sehen, mit seiner ganz ei­genen Geschichte. Jedes Mal, wenn ich jetzt einen Geflüchteten sehe, überlege ich: Welches Schicksal ist ihm wohl widerfahren? Was hat er erleiden müssen? Was hat er aufgegeben?“

 

Sehr anschaulich berichtete sie von verschiedenen Erfahrungen mit den Geflüchteten, von emotio­nalen Familienzusammenführungen nach jahrelanger Trennung, vom Deutschlernen über einen spielerischen Zugang, von der großen Bereicherung der Dorfgemeinschaft durch die Geflüchteten, aber auch von anfänglichen Schwierigkeiten und Vorurteilen. Zudem wurde deutlich, wie sehr die Bürokratie in Deutschland den Geflüchteten ein Ankommen und somit auch eine Integration erschwert. Passend zum Roman, wenn es dort heißt: „Aber da reißt nun das Gesetz sein Maul weit, weit auf und lacht, ohne beim Lachen einen Laut von sich zu geben. […] Das Gesetz frisst heute zum Abendbrot Hand, Knie, Nase, Mund, Füße, Augen, Gehirn, Rippen, Herz oder Zähne. Egal.“[1]

 

Erschütternd auch die Berichte über die Schicksale einzelner Geflüchteter, ihre absolute Alternativ­losigkeit zur Flucht. „Untereinander sprechen die Sudanesen nicht über ihre Flucht. Dieses Thema ist tabu.“ In einem weiteren Kurzabriss schildert Frau Große-Neugebauer die Situation des Sudans, eines Landes, fünf Mal so groß wie Deutschland, mit einem enormen Reichtum an Bodenschätzen, wie Rohölvorkommen und seltenen Erden. Nur leider kommt von diesem Reichtum kaum etwas bei der Bevölkerung an. Im Sudan gibt es zahlreiche unterschiedliche Völker und Stämme, viele ver­schiedene politische Gruppierungen. „Es wird so oft global von Afrika gesprochen“, so Große­-Neugebauer, „dann heißt es: ‚die Flüchtlinge aus Afrika‘. Dabei muss man sehr genau unterschei­den zwischen den einzelnen afrikanischen Ländern und dann noch einmal innerhalb eines jeden Landes.“

 

Abschließend appellierte Juliane Große-Neugebauer an die Schüler, sich offen für den Umgang mit Geflüchteten zu zeigen, zu reden, zu kommunizieren – nur dann könne Integration funktionieren. Und sich nicht von Vorurteilen und Pauschalisierungen vereinnahmen zu lassen, sondern einen kri­tischen Blick zu entwickeln.

 

Und die zehn jungen Männer aus dem Sudan? — Dank der dezentralen Verteilung 2015 konnten sie in der kleinen Gemeinde Meppen-Rühle aufgenommen und vor Ort unterstützt werden – sei es bei der Unterbringung im gerade frei gewordenen Pfarrhaus, beim Vermitteln von Praktikums- und Ausbildungsplätzen, beim Deutschlernen oder beim Rechtsbeistand. „Ich verstehe Kirche als akti­ven Dienst am Menschen“, so Große-Neugebauer, „als der Papst 2015 alle Gemeinden aufrief, Flüchtlinge aufzunehmen, waren wir gefordert.“ Und dieser Forderung wurde die kleine Gemeinde, vor allem dank des Heimatvereins Rühle, mehr als gerecht. „Als die Flüchtlinge ankamen, wollten sie nur eins: Es warm haben, keinen Hunger leiden, schlafen können und die neue Sprache lernen“, erinnert sich die Lokalpolitikerin nur zu gut an die Ankunft der ersten Sudanesen. „Aber wir haben auch viel von ihnen zurück bekommen, wir können viel von ihnen lernen – und sei es ’nur‘, mehr Achtsamkeit im Alltag zu leben, mehr Dankbarkeit zu zeigen, für all das Schöne und Gute, das wir erfahren dürfen.“

Es bleibt zu wünschen, dass diese gelungene, gelebte Integration auch andernorts gelingt – auch wenn die Umstände nicht immer so optimal gegeben sind.

Text und Foto: Cathrin Tenger

 

[1] Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Albrecht Knaus Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH 2015. S.227.


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